Nostalgieren zur Sonnenfinsternis

– 124 Tage in Chile –

Am Montag überkam mich die Nostalgie, obwohl ich Südamerika noch gar nicht verlassen habe. Als ich im Bus zu eine meiner letzten Univeranstaltungen saß, blickte ich auf die schneebedeckten, majestätischen Berge und überlegte, was ich an Santiago de Chile und am Leben in einem südamerikanischen Land vermissen würde. Die Liste wurde länger, als gedacht.

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Weg zur Uni. Berge im Hintergrund

Gestern war eine totale Sonnenfinsternis. Die Sonne wurde in Santiago zu 92% vom Mond bedeckt. Viele machten sich auf den Weg ins Valle del Elqui, wo der Sternenhimmel so klar ist, wie fast nirgendwo auf der Welt. Dort war eine totale Sonnenfinsternis zu sehen.
Als ich die Tage vor der eclipse die Schlangen von Menschen sah, die spezielle Brillen holten, um in die Sonne blicken zu können, wurde mir noch einmal bewusst, was für ein touristisches Massenereignis es werden würde. Das Valle del Elqui würde nicht der intime, menschenleere, sternenvolle Ort sein, den ich in Erinnerung habe.

Mit einer Freundin fuhr ich zum Templo Bahá’i, ein bahaitischer Tempel außerhalb von Santiago. Der Aufstieg glich einer Pilgerveranstaltung. So viele Menschen und Autos quälten sich den Berg hoch. Wir suchten uns einen ruhigen Platz. Theoretisch mit Blick auf das so versmogte Santiago, dass es eigentlich doch nicht zu sehen ist, warteten wir den Mond ab, der sich 15:20 vor die Sonne schob. 16:20 waren 92% der Sonne verdeckt und es wurde kalt. Das Licht färbte sich sepia und die Hunde in ganz Santiago fingen an zu bellen. Es war gruselig! So viele Dinge passierten in dem Moment und wir beide spürten so viele Energien in dem Moment. So wie die Hunde anfingen zu bellen, verstummten sie sobald das Spektakel zu Ende war. Ein unglaublicher Moment.

Montag erzählte mir ein Freund der Uni, dass die eclipse eine Zeit der Reflexion sei. Just an dem Tag nostalgierte ich vor mir her. Mein Unterbewusstsein wählte sich einen nicht zu übertreffenderen Zeitpunkt aus. Sonnenfinsternis und Mitte des Jahres. Sechs Monate von 2019 sind rum und mein Jahr in Südamerika fast auch.

In den schwersten Zeiten lernen wir am meisten. Meine anfänglichen „Bedenken“ gegenüber Chile sind zwar nicht vollständig verflogen, aber die fünf Monate, die ich hier lebe, waren unglaublich lehrreich. Ich lernte viel über das Land, das eine brutale und faszinierende Geschichte hat, über Freundschaften und menschliche Beziehungen, über das Allein-Sein und über mich.

Es ist zu früh, um ein Fazit zu ziehen. Dafür möchte ich die letzten fünf Wochen, die ich hier bin, noch abwarten. Stattdessen wollte ich heute über meine Unierfahrungen an der Universidad de Chile sprechen, denn mir fiel auf, dass das in den letzten Monaten untergegangen ist. Da die meisten Leute denken, dass ich nur am Reisen und Vergnügen bin (was zu einem Teil auch stimmt), möchte ich euch meinen Unialltag beschreiben.


Nach einem langen Prozedere und einigen Komplikationen fing ich Anfang März an der Universidad de Chile an periodismo (Journalismus) zu studieren. Die Universidad de Chile ist Chiles älteste, staatliche Universität (die mittlerweile gar nicht mehr so staatlich ist). 1843 gegründet, ist sie eine der ältesten Universitäten Amerikas.

Das Semester neigt sich nun dem Ende zu und ich bin sehr froh darüber. Und stolz auf mich! Morgen habe ich meine letzte Veranstaltung. Zeitweise dachte ich, es wäre unmöglich all die Aufgaben zu bewältigen. Aber hier bin ich. Lebend. Atmend. Und mit vielen neuen Erfahrungen.
Ich belegte dieses Semester lediglich drei ramos (Kurse) mit denen ich aber gut zu tun hatte!

Historia y Política de Chile Contemporáneo
Mein einziger Erstikurs, Geschichte und Politik im kontemporären Chile, der es in sich hat. Ich wählte diesen Kurs, da ich einen Überblick über das Land erhalten wollte. Ich lernte viel über die interessante Geschichte Chiles durch zahlreiche Lektüre, Dokumentationen, Vorträge des profes und Gruppenarbeiten.
Im Rahmen einer Gruppenarbeit gingen wir ins Archiv der Nationalbibliothek in Chile und durchforsteten stundenlang alte Zeitungen. Mir fiel auf, ich hatte bis dato nie in einem Archiv gearbeitet.
Durch die Gruppenarbeiten und die zwei pruebas de lectura (Literaturprüfungen) für die ich jeweils 200 bis 300 Seiten lesen musste, hatte ich ordentlich zu tun, lernte so aber auch viel über Chile, von dem ich anfangs ein ganz anderes Bild hatte. Leider war der Unterricht doch ein bisschen trocken und langweilig.
In dem Kurs lernte ich neben der Geschichte Chiles auch, dass ich nicht in jedem Kurs Freunde brauche. Die Studierenden kamen frisch aus der Schule und waren wie aufgeregte Welpen, die nun eine neue Welt erkunden würden. Mit den Leuten, mit denen ich sprach, fand ich kaum gemeinsame Interessen. Ich fühlte mich alt, als ich merkte, dass niemand älter als Jahrgang 2000 war. Dabei war ich sonst immer das Küken.

Periodismo de Investigación
Investigativer Journalismus. Ein sehr spannendes Tema, mit dem ich mich hoffentlich noch mehr beschäftigen werde. Meine anfängliche Begeisterung legte sich schnell. An der linken, staatlichen Universität erwartete ich gerade im Studiengang Journalismus weltoffene Dozierende. In diesem Kurs hatte ich den einen oder anderen Kampf mit der fast 80-jährigen, konservativen Dozentin. Ihre Meinung stand und konnte nicht in Frage gestellt werden. Ich war schockiert. Als sie mir in einer Arbeit eine schlechte Note gab, weil ich gendergerechte Sprache verwendete und laut ihr so etwas im Spanischen nicht existiere, stand für mich fest, sie und ich würden keine Freundinnen werden. Müssen wir ja auch nicht. Trotzdem wünsche ich mir gerade von Menschen, die mit Studierenden arbeiten, (kritik)offen und kommunikationsbereit zu sein. Dinge ändern sich. Natürlich hat sie Jahrzehnte lange Erfahrung im Journalismus, das heißt aber nicht, dass sie sich vor neuen globalen Entwicklungen verschließen muss, nur weil „es immer so war“.
Okay. Ihr merkt, da spricht noch der Frust aus mir. Der Kurs hat mir trotzdem viel gebracht. Ich stelle euch kurz einige der Aufgaben während des Semesters vor:

  • Eine der ersten Aufgaben war ein Interview mit einer chilenischen Oma. Da ich kurze Zeit vorher die Oma meiner Mitbewohnerin kennenlernte, hatte ich eine Interviewpartnerin für die Aufgabe. Das Ergebnis ist ein achtseitiges Interview über die Vergangenheit der Oma und ihres Landes. Es war spannend ihre subjektive Einschätzungen über die historischen Themen zu hören. Auch wie sie das Erdbeben von Valdivia im Jahr 1960, das stärkste seit der Aufzeichnung der Messungen, Salvador Allende und dessen Sturz im Jahr 1973, die folgende Militärdiktatur und persönliche Dramen erlebte.
  • Ich las das Buch „El poder de la UDI“ von (besagter Dozentin) María Olivia Mönckeberg über die Entstehung der rechtskonservativen, politischen Partei Unión Demócrata Independiente (Unabhängige Demokratische Union, UDI), die während der Militärdiktatur entstand. Ich war erschrocken, als ich feststellte, wieviel Einfluss der Diktatur in der heutigen Regierung noch steckt. Über das Buch schrieben wir eine Prüfung.
  • Der Tag an dem ich geboren wurde, ein weiteres Thema. Wir suchten Ereignisse aus Zeitungsarchiven, die an unserem Geburtstag passierten. Es ist unterhaltsam zu lesen, wie damals berichtet wurde und was so aktuell war. Guckt doch mal rein, was an eurem Geburtstag passiert ist!
  • In einer Gruppenarbeit sollten wir ein investigatives Journalismusbuch vorstellen. Die Wahl meiner Gruppe fiel auf das Buch „Operación Siglo XX. El atentado a Pinochet“ der Autorinnen Patricia Hertz und Carmen Verdugo. Detailliert wurde das Atentat vom 7. September 1986 auf den Diktator Augusto Pinochet beschrieben.

Periodismo Internacional
Mein absoluter Lieblingskurs war der, des Internationalen Journalismus‘. Jede Woche hatten wir eine pruebe de actualidad, in der wir Fragen zu einem Text beantworten mussten und die Namen von vier Personen bekamen. Wir mussten dann beschreiben, warum diese Personen in der letzten Woche in den Nachrichten waren. Also mussten wir immer gut informiert und aktuell sein. Der Dozent ermutigte uns mehr internationale Medien zu konsumieren. So gewöhnte ich es mir an neben meinem „normalen“ Nachrichtenkonsum nun noch mehr Aktuelles zu verfolgen. Nachrichtenkonsum wurde so Teil meines Alltags. Mir fiel dabei auf, wie eurozentrisch die deutschen Leitmedien sind. Neben deutschen Medien verfolge ich auch kolumbianische und chilenische, um Ereignisse aus anderen Blickwinkeln zu betrachten.
In dem Kurs lernte ich viel. Wir behandelten Themen wie Koruption, Internationale Beziehungen, Diktaturen, weltweite Pressefreiheit, … Mir fällt es schwer die vielen Themen zu benennen. Sehr viel Input!
Insgesamt schrieben wir drei Reportagen während des Semesters für die wir jeweils mindestens zwei Personen oder Organisationen interviewen mussten. Meine Themen:

  • Wilderei in Botswana
  • Der Korruptionsfall Odebrecht in Kolumbien und seine Auswirkungen
  • Juristische Folgen der Colonia Dignidad und deren Aufarbeitung

Das war also ein kleiner Überblick über die Themen mit denen ich mich während des Semesters beschäftigte. Trotz eines sechswöchigen Streiks lernte ich sehr viel und fühle mich bestärkt darin eventuell doch in den Journalismus zu gehen. Mir macht schreiben Spaß, und recherchieren, und interviewen, und fragen. Ganz viel fragen, um die Welt zu verstehen.

Weisheit des Tages: Überall schlummern interessante Themen, wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht. Ein Auslandssemester in Chile war für mich ein weiterer Perspektivwechsel, der mich auf viele, spannende Themen aufmerksam machte und zeigte, ich lerne nie aus. Und das ist gut so.

3 Kommentare

  1. Danke für den spannenden Einblick in deine Kurse und deinen Unialltag! Jetzt habe ich noch mehr Lust auf spannende Kurse in meinem Auslandssemester 🙂

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  2. Danke für den spannenden Einblick in deinen Unialltag und deine Kurse! Auch deine Erfahrungen während der eclipse sind sehr interessant. Man sollte sich viel mehr mit der Kraft der Sonne und der Planeten auseinandersetzen.

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