Vom Minimalismus und dem Füllen der großen Leere

– 109 Tage in Chile –

Die Berge in Santiago de Chile sind jetzt mit Schnee bedeckt. Der Herbst ist da und der Winter rückt näher. Auf dem Markt gibt es kaum noch Obst, zu kalt ist es geworden. Mir war nicht bewusst, dass es so kalt hier werden würde! Als ich vor fast einem Jahr meinen Rucksack packte, bereitete ich mich auf fast alle Klimavariationen vor, bis auf den Winter. Nun fehlen mir dicke Pullis und Winterjacken. Schon jetzt freue ich mich auf den Sommer in Berlin.

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Ausblick aus meinem Fenster

Im letzten Jahr, bevor ich meine zwei Auslandssemester in Südamerika startete, habe ich eine interessante Erkenntnis gehabt, die sich mit einem vorbelasteten Wort benennen lässt: Minimalismus. Jede*r kann sich etwas unter dem Begriff vorstellen. Weiße, sterile Wohnungen ausgestattet mit einem Möbelstück pro Raum und der perfekten, grünen Zimmerpflanzen. Ein Bilderbuch wie vom Instagramprofil.

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Minimalismus ist nicht gleich Minimalismus. Das einmal vorab. Was bedeutet es für mich? Wie kam ich dazu? Wie passt Minimalismus mit einem Jahr im Ausland zusammen?


Meine Mutter kann es wohl bestätigen, ich hatte ein kleines Shoppingproblem als ich in Teeniezeiten jedes Wochenende in Läden unterwegs war und (jedes Mal) das neunundsiebzigste Shirt kaufte. Der Kleiderschrank wurde voller, die Zeit jeden Morgen, die ich vor dem vollen Schrank stand ohne etwas zum Anziehen zu finden, länger. Paradox und doch wahr. Hand auf’s Herz. Wer beobachtet dieses Phänomen bei sich? Die naheliegendste Lösung: mehr kaufen, damit es mehr Optionen gibt!

So funktionierte es für mich nicht. Bei einer Kleidertauschparty im letzten Jahr fing ich bei den Massen an Klamotten, die alle mitbrachten, an, mich selbst zu hinterfragen. Wieviele von den Kleidungsstücken hortete ich schon seit Jahren ohne an sie zu denken oder sie anzuziehen? Wir alle haben dieses eine Oberteil, dessen Anlass noch kommen wird! Eines Tages… Nicht!
Während der Kleidertauschparty, bei der alle loswerden und niemand mitnehmen wollte, legte sich in meinem Kopf ein Schalter um. Ich fing an mich mit dem Thema zu beschäftigen, sah Videos auf YouTube und Dokumentationen auf Netflix. „The True Cost“ ist wohl eine der bekanntesten Dokus, die einiges in mir bewegte. Sehr empfehlenswert! Dieser Einblick in die Modeindustrie ließ mich schockiert zurück und mir wurde klar, ich will nicht länger Teil dieses toxischen Kreislaufs sein. Den wahren Preis möchte ich nicht mehr zahlen.

Vor einem Jahr fing ich an mehr auszusortieren, als neu zu kaufen. Der radikale Minimalismus begann, als ich im Juli 2018 meinen 65 Liter Reiserucksack für zwei Auslandssemester und ein Jahr reisen, packte. Was werde ich in einem Jahr brauchen? Was möchte ich anziehen?
Aus der Vielfalt an Kleidung kamen nur die Stücke mit, die ich wirklich liebe und in denen ich mich wohlfühle. Ich schaffte es für ein Jahr 18 Kilogramm zu packen, Kleidung, Kosmetik und alles, was man sonst zum Leben braucht.

In Kolumbien merkte ich schnell, ich brauche das andere Zeug, das noch immer in den Tiefen meines Zimmers in Berlin schlummert gar nicht. Mir wurde bewusst, alles was ich brauchte, hatte ich bei mir. Ein wenig cheesy, aber ich war begeistert und fühlte mich wohl damit.
Wer meine Beiträge aus Kolumbien gelesen hat, weiß, ich war rundum glücklich. Meine Zeit verbrachte ich mit interessanten Menschen, abwechslungsreichen Unternehmungen und der Verarbeitung neuer Eindrücke. Ich verspürte nicht das Bedürfnis zu kaufen. Alles, was ich brauchte, hatte ich bereits.

Wenn das Leben erfüllt ist, muss der Kleiderschrank nicht gefüllt werden. Mein Bedürfnis nach Glück erfüllte ich mit Freude am Leben in Kolumbien. In Chile hingegen verfalle ich in alte Muster. Seit dreieinhalb Monaten lebe ich in Santiago de Chile und trotz toller Aktivitäten und neuen Erfahrungen, versuche ich mit Käufen etwas zu kompensieren. Glücklich kaufen klappte doch früher auch?
Heute weiß ich, dass es mich nur kurzfristig glücklich macht und später ärgere ich mich, dass ich wieder ein Teil mehr besitze, dass ich gar nicht brauche.
Es gibt einen Unterschied zwischen brauchen, wenn beispielsweise Löcher in Socken nicht mehr zu stopfen sind und glauben zu brauchen. Einen schlechten Tag gehabt? Schnell zu H&M rein und sich einen Moment lang glücklich kaufen. Kapitalismus lässt grüßen.

Ganz unbewusst sehne ich mich hier nach Dingen. Klamotten, Büchern und was mir sonst noch so über den Weg läuft. Irgendetwas kaufen. Vorher fiel es mir leichter. Ich hatte einfach nicht das Bedürfnis zu kaufen. Das Leben füllte mich so aus, dass ich nichts weiteres brauchte. Ich war erfüllt. Glück in jeder Körperzelle. Es war ein schönes Gefühl. Ich fühlte mich so lebendig.

Hier in Chile merke ich, ich komme dem Bedürfnis zu kaufen wieder nach. Eigentlich wollte ich neulich nur mein Ladekabel umtauschen. Als ich mich dann im Flohmarktviertel Santiagos umgeben von gebrauchten Klamotten und Büchern wiederfand, wollte ich nur fünf Minuten gucken. 15 Minuten später waren 11€ weg und vier neue Teile da. Ist doch halb so wild, versuche ich mich zu beruhigen. Doch es klappt nicht. Ich weiß, dass ich die zwei Pullis und zwei T-Shirts nicht brauche. Ich habe genug.
Die Klamotten gefallen mir wirklich. Aber warum, wenn ich sie nicht brauche? Ich habe mich aus einem inneren Bedürfnis heraus leiten lassen und griff ins Portmonee. Eine große farbenlose Leere, die wartet gefüllt zu werden. Vorher war sie nicht da und jetzt muss ich sie irgendwie füllen, unbewusst.

Zum Minimalismus gehört für mich auch ein bewusster Umgang mit den Dingen, die ich besitze. Ich möchte keine Fast Fashion Industrie mehr unterstützen. Bei der Produktion von Kleidung werden sehr viele Ressourcen benutzt. Ich werde auch nicht mehr dem halbjährlichen Modetrend, den die Industrie ins Leben ruft, um Geld aus den Taschen zu ziehen, hinterherrennen.
In Kolumbien und Chile bin ich auf den Second Hand Geschmack gekommen. „Shoppen“ macht so viel mehr Spaß, denn ich wertschätze die Teile, die ich finde mehr. Jeder Fund ist eine kleine Errungenschaft. Und wenn ich nichts finde, was mir gefällt? Ist auch nicht schlimm. Es hängen immer noch genug Teile im Schrank.

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Fünf von sieben sind Second Hand

Zu sein und nur die Dinge zu besitzen, die ich wirklich brauche, das ist für mich Minimalismus. Im Idealzustand sehne ich mich nicht nach mehr, sondern wertschätze die Dinge, die ich bereits habe. Mit weniger Gegenständen und Kleidung habe ich mehr Zeit für’s Leben. Ich möchte mich nicht über meiner Kleidung definieren, sondern über meine Charakterzüge und Eigenschaften, Erlebnisse und Erfahrungen.
Zwar machen Kleider Leute, aber auch Selbstbewusstsein, Auftreten, Humor und Umgang mit den Mitmenschen machen Leute. Ich bezweifle, das meine Freunde sich aufgrund meines Kleidungsstils mit mir anfreundeten.

Schöne Momente genießen

Ich freue mich darauf meinen Kleiderschrank, Bücher & Co. auszusortieren, wenn ich wieder zurück bin. Nach einem Jahr wird mir erst so richtig auffallen, wieviel Zeug ich wirklich habe und nicht brauche. Ich möchte mich nicht mehr permanent nach etwas zu sehnen, was ich besitzen will. Das ist nämlich echt anstrengend. Stattdessen möchte ich einfach sein und erleben, egal, ob ich nach der neuesten Mode gekleidet bin oder nicht.

Weisheit des Tages: Manchmal brauchen wir weniger zum Leben, als wir gedacht hätten.

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