– 86 Tage in Chile –
Vor fast drei Monaten kam ich nach Santiago de Chile, eine Millionenstadt, ohne große Vorstellungen und doch irgendwie mit Erwartungen. Kaum war ich da, dachte ich: hier bin ich, jetzt kann es losgehen! Doch in Santiago wartete natürlich niemand auf mich. Mir fiel es schwer mich einzufinden. Ständig tauchte ein neues Problem auf. Einige Wochen wusste ich echt nichts mit mir anzufangen. Alles war doof. Die Stadt war mir zu grau und exkludierend, chilenische Politik machte mich fassungslos, sogar chilenisches Essen konnte mich nicht überzeugen (dazu bald mehr). Ich fing an die Tage zu zählen bis ich die Stadt und das Land verlassen könnte. Einer meiner einzigen Lichtpunkte: der Besuch meiner Familie Mitte April. Für zwei Wochen reisten wir durch Patagonien in Argentinien und Chile. Als ich zurück nach Santiago kam, wollte ich der Stadt eine zweite Chance geben.
Da der Unistreik mich begrüßte, als ich wiederkam, nahm ich mir vor, die Zeit in Santiago bewusst für mich und meine Interessen zu nutzen. Ich tauchte ein in die kulturelle Welt der Hauptstadt, entdeckte langsam Ecken, die mir wirklich gefielen, probierte neue Dinge aus und lebte kleine Momente des Glücks. Lesen, schreiben, Ausstellungen, kulturelle Veranstaltungen und reisen füllten meine Wochen. Dieses Wochenende öffneten viele Museen in ganz Chile kostenlos ihre Türen. Überall waren Veranstaltungen, Diskussionsrunden und Workshops. Ich besuchte einige Museen und sah Tänze auf öffentlichen Plätzen.
Das Museum für chilenische Naturkundemuseum (Museo de Historia Natural) war unser erster Stop. Mir gefiel es, da es Chiles Flora und Fauna vom Norden bis in den Süden erklärt. Chile ist eines der vielfältigsten Länder der Welt mit der trockensten Wüste im Norden bis zu den riesigen (schmelzenden) Gletschern im Süden.
Im Parque Quinta Normal befinden sich mehrere interessante, teilweise kostenlose Museen. Weiter gingen wir ins Tonmuseum (Museo del Sonido), in dem die Geschichte des Tons gezeigt wird. Mich hinterließ es mit einem wohligen Gefühl. Damals konnten die Menschen so glücklich gemacht werden mit der Erfindung den Ton einzufangen und unterwegs mit portablen Schallplattenspielern Musik zu hören. Leute versammelten sich um einen Plattenspieler und lauschten gemeinsam den Klängen. So einfach kann – oder konnte – es sein, schöne Momente zu kreieren.
Heute besuchte ich das Museo de Violeta Para, einer chilenischen Künstlerin, die in den Bereichen Malerei, Weberei, Musik und Poesie aktiv war. Tagsüber fanden verschiedene Veranstaltungen statt. Nachmittags tratt auf dem Platz vor dem Museum eine Frauenband auf, zu denen die Menschen Cueca tanzten, Chiles traditionellem Nationaltanz, bei dem das Tanzpaar Tücher einsetzt. Als ich zum Tanz aufgefordert wurde, musste ich ablehnen, weil Cueca noch nicht zu meinem Tanzrepertoire gehört – und wahrscheinlich auch nie wird.
Abends ging ich zu einem Jazzmusikevent im Ausgehviertel Bella Vista. Niemand hatte so wirklich Zeit am Abend. Trotzdem wollte ich unbedingt hingehen. Eine Sache, die ich definitiv während der Zeit im Ausland gelernt habe: alleine sein und alleine Dinge unternehmen. Viel zu schade wäre es gewesen, mir diesen schönen Abend entgehen zu lassen. Was ich sah, löste unglaublich schöne Gefühle in mir aus. Jazzmusik der 20er Jahre wurde von einem Live-Orchester gespielt. Eine Tanzgruppe, die sich auf Swing spezialisierte, schwingte die Hüften, Haare und Gliedmaßen in einem solchen Tempo, das es unmöglich war, eine Choreografie zu erkennen. Menschen wirbelten sich gegenseitig über den improvisierten Tanzfloor. Egal, ob jung oder alt, dick oder dünn, schwarz oder weiß, Frau oder Mann oder alles zwischen dem genannten, alle tanzten mit allen. Es war ein Abend voller Energie und Lebensfreude. Die Tanzenden strahlten über das ganze Gesicht und steckten damit alle im Kreis um sie stehenden Menschen an. Niemand konnte sich ein Lachen verkneifen und Augen strahlten. Die Körper der Tanzenden schienen eins mit der Musik zu werden. Sie wussten genau, an welcher Stelle sie als nächstes den Fuß stellen, die Hüfte bewegen oder den Kopf nach hinten werfen mussten. Mit der Musik schien das Glück in sie zu strömen, so viel, dass sie durch gewagte Tanzschritte einen Teil wieder rausschüttelten und auf die Zuschauenden warfen. Für einige Stunden sah ich einfach zu und war glücklich Teil der Leidenschaft der Tanzenden zu werden.
Der Mai verging wie im Flug. Nachdem ich mich nach Veranstaltungen und Orten umschaute, wurde Santiago eine aufregende Stadt für mich. Nicht weit von mir gibt es immer etwas zu sehen und zu erleben. Die Stadt steckt voller Leben, Kunst und Abenteuer. Santiago ist hip, modern und aufregend. Einmal hineingestürzt in das Innere der Stadt, verborgen hinter den Tourifassaden, blüht das Leben. So viel ist los. Die Stadt lebt nie aus.
In meinem letzten Auslandssemester in Bogotá entwickelte ich eine Theorie, die ich in Chile bestätigt sehen wollte. „Ich kann überall glücklich sein, dafür brauche ich nur mich selbst.“ Der Anfang in Chile war wirklich kein leichter. Alles, was schief laufen könnte, lief auch schief. Mit der Zeit und einer anderen Einstellung, die ich mir erst anlegen musste, habe ich es geschafft, Santiago für mich zu entdecken. Es ist bei Weitem nicht meine Lieblingsstadt, aber mittlerweile verstehen wir uns ganz gut. Ich bin nicht mehr bei jeder Kleinigkeit genervt und schiebe es auf die Stadt. Ich finde mich jetzt besser zu Recht und lerne Dinge und Momente zu schätzen.
(Mir ist bewusst, dass ich in einer privilegierten Situation bin und mir nach Lust und Laune meinen Wohnort aussuche. Ein großes Privileg, das Millionen von Menschen nicht haben.)
Hier beginnt jetzt der Winter (oder ist es noch Herbst?). Ich stelle fest, dass ich darauf eindeutig nicht vorbereitet war. Ich friere in der Altbauwohnung! Kommentare wie: „Du bist deutsch! Das ist doch gar nichts für dich“ muss ich über mich ergehen lassen. Seit einigen Tagen habe ich jetzt eine kleine, elektrische Heizung. Erst weigerte ich mich eine zu benutzen, weil sie eindeutig nicht klimafreundlich ist. Wenn die Alternative aber eine kalte Wohnung ist, die kälter ist als vor der Haustür und Dauererkältungen sich anbahnen, dann versuche ich meinen beschmutzten ökologischen Fußabdruck anders auszugleichen.
Ich bin gespannt, wie sich die nächste Zeit hier entwickelt! Nun weiß ich, ich habe darauf einen Einfluss – wenn ich möchte. Der Streik ist jetzt erstmal beendet und morgen geht die Uni wieder regulär los.
Weisheit des Tages: Je mehr ich anfange, mein Leben in Santiago zu mögen, desto schneller vergeht die Zeit. Zeit, die man gut verbringt, vergeht schneller – scheint ein ungeschriebenes Naturgesetz sein.
Liebe Jule, es ist eine Freude und jedes Mal ein Erkenntnisgewinn, deine Berichte zu lesen. Aus dir spricht soviel Lebensweisheit! Danke, dass du mich teilhaben lässt an deinen Erlebnissen. Ich ziehe den Hut vor allem, was du so leistest und vor deinem Mut, die Dinge anzupacken.
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Ein sehr schöner und insbesondere persönlicher Beitrag. Danke, dass du deine Gedanken mit uns teilst!
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